Nachts…

0203 hrs

Ich habe mir irgendwie den ganzen Abend alles mögliche Klangliche aufs Ohr getan: Slickaphonics, Isaac Hayes, Candy Dulfer, Marvin Gaye (Mrs. Jones, hach!), Johnny Guitar Watson – lang leben die 70er, Be-Funk und der ganze Motown-Kram! und bin dann wie so oft bei Maceo Parker gelandet. Happy Music und dazu sanftes Schiffsgeschaukel!

Dann war ich wach. Und damit ich nicht runter in die Kombüse renne und irgendein Überbleibsel vom gestrigen BBQ erlege, um dann doch irgendwann im Niedergang (Treppenhaus) stecken zu bleiben, bin ich raus aufs E-Deck und dann weiter auf die Brücke zwei Decks höher.

Es weht ein angenehmer Wind, der mehr wie eine freundlich warme und sanfte Streicheleinheit von Mama Natur daher kommt. Wir sind relativ dicht unterm Äquator – 10.26° Süd – und morgen Abend oder so gehen wir drüber. Charlotte und ich haben vorsorglich klar gemacht, dass das nicht unsere erste Äquatorüberquerung ist – in beiden Fällen eine kleine Notlüge, aber bitte keine Äquatortaufe…

Es ist unglaublich da oben – also auf der Brücke. Dieser Sternenhimmel. Ich glaube, das habe ich das letzte Mal als kleiner Knopf (ich war mal klein und dünn, ja…) in Dänemark gesehen. Blöde Lichtverschmutzung überall. So derart viele Sterne lehren einen ein wenig Demut. Sirius, Beteigeuze, Rigel, andere Sterne, Sternhaufen, die Milchstraße, andere Galaxien, Galaxienhaufen, Nebel. Ein Blick in die Vergangenheit – teilweise in die weit entfernte Vergangenheit. Einiges von dem, was da leuchtet gibt’s vielleicht schon gar nicht mehr. Dazu jede Menge Sternschnuppen.

Also kräftig Dinge wünschen. Wenn das alles klappt, ist mein Arbeitgeber finanziell ruiniert und ich verbringe den Rest meines Lebens entspannt auf See… Hurra!!!

Rein ins Brückenhaus. “Gutt monning, Sah!” – Second Mate (2. Offizier) geht Wache mit Joey (philippinischer Matrose,  absoluter Sonnyboy). Luxus! Sollten sie nachts ja überall machen mit einem, der den Wachhabenden bei der Stange hält. Die hier können sich das leisten mit 22 Mann. Aber das ist auch nicht mehr der Normalfall. Auch nicht, dass sie einen 3. Offizier haben und der Master (Kapitän) nicht Wache gehen muss.

Auf den kleineren Schiffen haben sie meistens nur noch zwei Offiziere. Also muss der Master mit auf Wache und dazu den ganzen Papierkram machen, bei Manövern (anlegen, ablegen, Lotse an Bord) auf der Brücke sein, etc… Schlimm in Nordeuropa, wo die ganzen Häfen dicht aneinander liegen. Bedeutet z.B.: Felixstowe (UK), Rotterdam, Hamburg, Rotterdam, Felixstowe in einer Woche ohne Pause. Also kaum bis kein Schlaf – weder für die Offiziere, noch für die Mannschaft. Wenn dann auf der Nordsee oder im Kanal noch schweres Wetter ist, dann sind die am Ende so einer Woche vollkommen abgebügelt. Nix Seefahrerromantik. Eiserne Regel: “Wann immer Du schlafen kannst, schlafe! Unbedingt!”

Oder doch noch ein Rest Romantik? Bei so einer langen Reise ohne Hafen wie jetzt vielleicht ein bisschen. Da kehrt Ruhe ein. Da ist Zeit für Entspanntes. Nachdem ich mal dezent nachgefragt habe, hat mir der Chief Mate (1. Offizier) vorhin einen Sextanten in die Hand gedrückt und erklärt und ich habe meine erste Messung gemacht. 4° daneben. Mist! Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass mir das Ding über die Reling segelt. Teuer, sowas…

Das war irgendwie wie Weihnachten… Man mag das für beklopft halten, aber ich war glücklich wie ein Schnitzel. Ich wollte das schon immer mal machen. Ich finde Navigation höchst spannend. Und also hab ich da mit dem Ding alles Mögliche angepeilt – mir wird langsam klar, wo der Ausdruck “verpeilt” herkommt. Links Horizont – rechts Venus (man guckt durch eine Art Prisma oder Doppelspiegel), dann Venus zum Horizont runter schieben. Feststellen. Rein ins Brückenhaus. Winkel ablesen (tja – 48,3° sagt der Rechner, 44kommairgendwas habe ich gemessen). Und dann Tabellen, Tabellen, Tabellen, Abweichungen, Korrekturwerte für Höhe des eigenen Standortes, Korrekturwerte für die Optik selber, blablabla… Mit einem Wort: Die Messung an sich ist noch das Leichteste. Ohne diese Logarithmentabellen und den ganzen anderen Kram würde die gesamte Positionsbestimmung ewig dauern.

Früher hatten sie nicht mal genau Uhren. Da war insbesondere die Bestimmung des Längengrades eine ziemliche Lotterie.  Mit der Einführung der ersten Präzisionsuhren (irgendwo habe ich mal einen Nachbau der H4 gesehen – was für ein unglaubliches Kunstwerk!) konnte man das dann sehr sicher durchführen. Heute gibt’s GPS und die Rechnerei entfällt. Hätte eh keiner mehr Zeit für (s.o.). Aber die alte Methode muss trotzdem beherrscht werden und wird den Offizieren immer noch beigebogen. Die Wikinger hatten nur die Sterne. Keine Optik, keine ausreichende Mathematik, nix. Nur die Sterne und viel Mut zur Lücke…

Also – 4° daneben. Epic Fail!!! Das üben wir noch, dachte ich so vor mich hin. Und der Chief Mate – als könne er Gedanken lesen – grinst und sagt doch wirklich: “Du weißt ja nun, wo das Ding liegt und wo die Tabellen stehen”. Ich könne jederzeit gerne üben. Er würde mir auch bei Gelegenheit zeigen, wie man das mit der Sonne macht und mit dem Mond, wenn der mal wieder sichtbar wird. Ansonsten soll ich einfach probieren.

Mann – der hat ja ein sonniges Gemüt. Einen Scheiß tu ich und geh an diese Optik alleine dran. Ich kenne mich – vor lauter Aufregung versenke ich das Ding im Pazifik. Aber ich habe mir eben überlegt, dass ich zu Hause dringend mal gucken muss, ob ich in der elektrischen Bucht so ein Teil gebraucht abschießen kann. Muss ja nicht mehr 100%ig eingestellt sein und funktionieren, aber die Dinger sehen irgendwie sexy aus – sind ja auch Sextanten… Oh, Mann – kein weiterer Kommentar, der war ja erzflach… Auf jeden Fall sehr dekorativ, so eine Optik!

*seufz*

Das sind wirklich genau die Augenblicke, derentwegen ich solche Reisen mache. Es ist ein unglaubliches Gefühl von Leichtigkeit und auch einer gewissen Freiheit bzw. Unbeschränktheit, wenn man nachts einfach aufsteht und mal eben auf die Brücke schlurft – in vorbildlich lumpiger Kleidung, da oben laufen sie eh alle rum, wie die Schluffis – wen sollte es auch stören? Ein kurzes freundliches Gespräch, ein Blick aufs Radar, ein Blick aufs GPS, neuen Wetterbericht lesen, einen Keks und “Gute Nacht” und wieder inne Koje…

“Have a good watch, 2nd!” – “Sleep well, Sir!”

Ach übrigens – ich hab das Bullauge offen, Decke bis zum Kinn, kriege die Brise von Steuerbord voraus um die Ohren und sehe die Sterne. Was will ich mehr?

0258 hrs

In 4 Stunden gibt’s Frühstück. Gute Nacht!